Hegels Pöbel als alternative Idee


Besprechung von

Frank Ruda: Hegels Pöbel. Eine Untersuchung der ´Grundlinien der Philosophie des Rechts´, Konstanz 2011


Abstract:

Frank Ruda rekonstruiert mit Hegel die Eigenschaften des Pöbels, eines auch für Hegel mit der Armut einhergehenden Exkrements der bürgerlichen Gesellschaft. Den Pöbelsubjekten mit ihrer objektiven aber auch subjektiven Entbindung von Rechten wie Pflichten dieser Gesellschaft mutet Ruda eine alle Menschen übergreifende Universalität und revolutionäre Potentialität gegen die bürgerliche Freiheit zu.

Darüber geraten Ruda die tatsächlichen Prinzipien und logischen Notwendigkeiten der bürgerlichen Gesellschaft aus dem Blickfeld. Eine Beurteilung der Willenselemente in ihrer bürgerlichen Besonderheit versagt er sich damit. Was bleibt, ist eine Gegen-Idee eines nicht-freien Willens, des leeren Un-Willens, letztlich eine Chimäre von einem alternativem Subjekt im Pöbel oder im Proletariat des frühen Marx.



Frank Ruda legt (mit viel Vertrautheit mit Hegels Gedankenwelt und eleganter Argumentation) den Finger in eine offene Wunde der hegelschen Rechtstheorie. Es gibt in Hegels System der Sittlichkeit einen relevanten Anteil der Gesellschaft, der aus diesem System herausfällt: Objektiv sind das die Armen, drastischer und subjektiv gewendet der Pöbel.


Ruda erschüttert mit seiner minutiösen Nachzeichnung von Hegels Wahrnehmung und Einordnung des Pöbels grundlegend das System des bürgerlichen Rechts, und damit die hegelsche Heiligkeit des bürgerlichen Staates.

Darüberhinaus beansprucht Ruda mit seiner Analyse des Pöbels nicht nur einen Mangel der hegelschen Rechtsphilosophie zu denunzieren, er meint damit das ganze “hegelsche System” des Geistes hinter sich lassen zu können:


„... überdies steht und fällt das Hegel´sche System mit der Rechtsphilosophie“ (31)





1. die objektiv Armen


Die “Profanisierung der Armut”(30) der Reformation mündet nach Rudas Lesart bei Hegel in ihrer Denaturalisierung, die Armen seien bei Hegel als Produkt der bürgerlichen Gesellschaft gefasst:


“... dass aber Armut entsteht und ist, ergibt sich für Hegel notwendig aus der die bürgerliche Gesellschaft stabilisierenden und sie antreibenden Bewegung.” (32)

„Die bürgerliche Gesellschaft produziert arme und verarmte Massen.“(37)

„... die bürgerliche Gesellschaft bringt unausweichlich und notwendig Armut hervor“ (102)


Die zwingende Notwendigkeit der Armut, die Ruda als eine von Hegels Darstellung hervorhebt, kann sichaber keineswegs auf Hegels Verlautbarungen zur Armut in der bürgerlichen Gesellschaft stützen. Hegel betont für die bürgerliche Gesellschaft vielmehr die Zufälligkeit von dem, „was und wieviel ich besitze“. Ruda deutet also den von Hegel in seiner Darstellung ausdrücklich als Möglichkeit vorgestellten logischen Zusammenhang in eine Notwendigkeit um, ohne noch selbst einen Nachweis dieser Notwendigkeit am Sachverhalt anzustrengen.


Allerdings mag Hegel die Armen in ihrer Zufälligkeit doch zumindest als regelhaftes Ergebnis der bürgerlichen Gesellschaft wahrnehmen, ist für ihn doch


„Die wichtige Frage, wie der Armut abzuhelfen sei,... eine vorzüglich die moderne Gesellschaft bewegende und quälende.“ (§244 Zusatz)


Angesichts des Anspruchs Hegels, mit seinem Begriff die Wahrheit der bürgerlichen Gesellschaft in ihrer Gesamtheit zu erfassen, läuft das allerdings in der Tat auf das Eingeständnis eines grundlegenden systematischen Defizits hinaus.


Mit der Übernahme der hegelschen negativen Bestimmung der Armen übergeht Ruda die spezifischen Elemente und Gesetzmäßigkeiten dieser Reichtumsproduktion, dass es sich bei ihr um ein System der Mehrarbeit handelt, das sich zudem vom überkommenen feudalen unterscheidet. So kümmert ihn in seinem Begriff der Armut auch nicht weiter die ökonomische Figur des Lohnarbeiters. Ob der Lohnarbeiter schon zu den objektiv Armen gehört, ohne Eigentum, bereit zum Pöbel zu werden; oder ob er noch Teil der bürgerlichen Gesellschaft ist und nur „doppelt latent“ Pöbel, ist ihm deshalb keine zu klärende Frage. Inwiefern der Lohnarbeiter nach den rechtlichen Kategorien von Hegel Teil der bürgerlichen Gesellschaft sein kann, bleibt ebenfalls offen; ebenso worin dann das Eigentum des Lohnarbeiters besteht, das ihn über ständische oder korporative Vertretung in die bürgerliche Sittlichkeit einbindet.


Ruda macht also gegen Hegels Willensprinzipdie Teilhabe an der Reichtumsproduktion zum Kriterium der Mitgliedschaft in der bürgerliche Gesellschaft, um die Armen als ihr Negativum sichtbar zu machen. In seinem Verharren in Hegels Kategorien blendet er dabei die Armen aus, die nützlich sind für Mehrarbeit und Mehrwert, den spezifisch bürgerlichen Kern dieser Reichtumsproduktion.




2. widersprüchliche Sittlichkeit


In der entfalteten bürgerlichen Sittlichkeit sieht nach Ruda Hegel zwei gegensätzliche Tendenzen am Werk. Zum einen ist es der abstrakt freie Wille, der mit dem Eigentum mündet in dem

“Prinzip der bürgerlichen Gesellschaft ... als die Akkumulation der für den Erhalt des eigenen Lebens notwendigen Subsistenzmittel durch eigenen Arbeit.”(38).


Gegen die mit der bürgerlichen Gesellschaft resultierende Armut gibt Hegel zum anderen dem Staat als seinen Zweck auf, dass er

„für den existenziellen Erhalt ihrer Bürger Sorge zu tragen hat”(37), zumindest

“... allen gewährleisten...die eigene Subsistenz durch je eigene Arbeit besorgen zu können” (34).


Ruda führt mit aller Deutlichkeit aus, dass Hegel – auch wenn er die „Armutsfrage“ (31) für eine „quälende“ (§244Z) hält – sich im Klaren darüber ist, dass die Versöhnung des bürgerlichen Rechts mit dem Menschen und seinen natürlichen Bedürfnissen weder durch die bürgerliche Gesellschaft selbst, noch durch Bettelei, Notrecht, Kolonisation, öffentliche Arbeit, die Korporation oder gar die „Polizei“ (auch im hegelschen Sinne der Fürsorge) zu leisten ist (37-59).


Diesem Widerspruch in der bürgerlichen Sittlichkeit gehen aber weder Hegel noch Ruda systematisch nach, es wird nicht nach ihrem logischen Kern oder begrifflichen Ausgangspunkt, etwa schon im abstrakten Recht, gefahndet. Beide bescheiden sich mit dem schlichten Aufscheinen dieses Widerspruchs als Negativum der bürgerlichen Gesellschaft. Ruda wirft Hegel im Pöbel zwar einen Mangel seiner Kategorisierung vor, akzentuiert aber selbst den Pöbel nur als Symptom (positiv hervorgehoben im Vorwort von Slavoj Žižek, S.13). Eine logische Folgerichtigkeit für dieses Symptomatik beansprucht er dafür letztlich nicht,er begnügt sich mit einer Analogie:

„... der Widerspruch, der die bürgerliche Gesellschaft ausmacht, lässt sowohl den Pöbel als auch den Staat (logisch) koemergieren“ (63).



3. Rudas Gegenentwurf zur Logik der hegelschen Rechtsphilosophie


Ruda zeichnet nach, wie Hegel in seiner mit dem Willen anhebenden Rechtsphilosophie die Armen nur negativ bestimmt, als Nicht-Personen, nicht über Eigentum verfügend und von daher nicht über Stände teilhabend am produktiven Geschehen.

Ruda selbst formuliert den Sachverhalt des Pöbels allerdings etwas anders, ohne Entwicklung von Hegels Prinzip aus, vorliegend allein in der vollendeten Wirklichkeit des abstrakten Rechts:


“Wahrhaft existiert in der bürgerlichen Gesellschaft nur, was durch Arbeit und Tätigkeit vermittelt ist”(66)


Damit stellt Rudas Interpretation von Hegel dessen Geistesprinzip der bürgerlichen Gesellschaft zwar in Frage und auf materialistische Beine, behauptet mithin implizit eine Umkehrung der logischen Abfolge des Begriffs der bürgerlichen Welt. Aber weder kennzeichnet noch begründet er diese Differenz zu und an Hegel, noch will er die Momente des von ihm doch akzeptierten abstrakten Rechts aus diesem anderen grundlegenden Wesen, Reichtumsproduktion, hergeleitet haben.

Auch an anderen Momenten seiner Übernahme von Hegels Darlegung in der Rechtsphilosophie scheint auf, wie anders und gegen Hegels eigene Konzeption Ruda die hegelsche Darstellung der Rechtsphilosophie verstehen will:


“Die Sittlichkeit, die logisch vor und zugleich im Entwicklungsfortgang der Rechtsphilosophie nach der Moralität steht.”(155)


Es ist wohl so, dass Ruda Hegels Darstellungsbeginn im Willen gar nicht als dessen begriffliches Prinzipium von bürgerlichem Recht und seiner Sittlichkeit nimmt. Deshalb versteht er weder den Willen in seiner abstrakten Form, noch die Moralität, noch die Sittlichkeit von bürgerlicher Ökonomie und bürgerlichem Staat als logisch notwendige Folge des Willens.

Ruda sieht sie gerade nicht als die Verwirklichung dieses begrifflichen Prinzips. Deshalb macht er sich auch gar nicht die Mühe, diese hegelsche Abfolge auf logische Konsistenz zu prüfen. Stattdessen lässt er Hegels begrifflichen Ausgangspunkt im abstrakt freien Willen einfach gelten, und plausibilisiert sich umgekehrt den hegelschen Anfang an und mit den Formen bürgerlicher Wirklichkeit.


Ruda positioniert so gegen Hegels ureigene Vorstellungen die Teilhabe an der gesellschaftlichen Reichtumsproduktion als Prinzip seiner Rechtstheorie. Es gibt aber keine Stelle in Rudas gesamter Argumentation, wo er auch nur versucht, von diesem alternativen Prinzip ausgehend kategorial den Weg zu den hegelschen Willensformen des Rechts zu weisen.




4. Der subjektive Pöbel als Un-Willen, Un-Sittlichkeit


Ruda führt aus, dass Hegels Bestimmung des Pöbels nicht allein über die objektive Armut erfolgt. Der Ausschluss der Armen aus dem System der Sittlichkeit geschieht weiter auch über ihre eigene negative Stellung zum rechtlichen Willen.


Der rechtliche Wille ist für Hegel in seiner Rechtsphilosophie nicht der (an sich) freie Wille, also ein Wille, der in seinem bestimmten Inhalt sich doch auch als freier weiss und will. So einen Willen fasst jeder Mensch, auch der Arme, Pöbel oder nicht.

Das rechtliche Willenssubjekt ist nach Hegel dagegen nur der selbstbezüglich entwickelte Wille, der primär sich getrennt von allem Inhalt allein als (leerer) Wille will, also ein abstrakt freier Wille. So einen Willen ermittelt Hegel als den subjektiven Kern des Rechts, als die Person.


Diesem Übergang vom Willen zu seiner Abstraktion von sich selbst verlangt Ruda aber keinerlei inhaltliche Notwendigkeit ab, er erzählt Hegels Darlegung in ihrer Abfolge schlicht nach. Im Weiteren unterscheidet er diese beiden Willensformen gar nicht mehr, sondern nimmt den abstrakt freien Willen als den freienWillen schlechthin.


Nach Hegels weiterer Darlegung kann nur diese Sorte Subjekt, die Person, in einem materiell desinteressierten Willen zu Gegenständen als Eigentum münden, und darüber an der Reichtumsproduktion teilhabend wirken und einen sittlichen Zusammenhalt ausbilden. Diese logische Folgerung aus dem abstrakt freien Willen hin zum Eigentumswillen leuchtet Ruda ebenfalls ein, obwohl ein nur sich wollender und darin inhaltsbeschränkter Wille so arm ist, dass er gar nicht den Drang in sich tragen kann, sich in der Welt als Eigentum zu verwirklichen.


Diese grundlegende Abstraktion von jeglichen Inhalten in Person und im Eigentum geht laut Hegel dem Pöbel ab:


„´Der Pöbel ist verschieden von Armut´“, zitiert Ruda Hegel, „er ist vielmehr der infam gewordene Arme“,

„ der ´sich in einem Zustand der Rechtlosigkeit´ zu befinden dünkt“ (65) und dessen

„´Unzufriedenheit... zugleich die Form des Rechts annimmt´“ (66).


In Rudas Worten:


„... jeder beliebige Arme... (kann)... zum Pöbel werden, da sich der Pöbel von selbst macht...“ (80)


Diese Unzufriedenheit des Pöbels tritt nicht auf mit einem abstrakt freien Willen, der sich als sittlicher in die bürgerliche Gesellschaft einbindet und so verwirklicht. Der Wille des Pöbels gilt Ruda – mit seiner Gleichsetzung von Willen und rechtlichem Willen – als Un-Willen, weil nicht sittlich eingebetteter Wille. Dieser Wille hat so aber wie der abstrakt freie Wille keinen weiteren Inhalt, außer dass er negativ zu diesem abstrakt freien Willen sich stellt. Der Pöbel fordert etwas von der Gesellschaft, ohne Rechtsubjekt zu sein,er will Un-Recht.


5. Der reiche Pöbel


Mit dem Willensmoment bei der Bestimmung des Pöbels ist von Hegel auch eine mögliche Verpöbelung der Reichen angesprochen, deren sittliche Entwurzelung


„bedeutet als bloße Privatperson zu leben“(70), und im zufälligen „Luxus“ (69)


des Verbrauchs.

Entgegen den Armen, die er ohne Nachweis als notwendige Folge der bürgerlichen Gesellschaft befindet, bleibt für Ruda der Reichtum zufälliges Resultat spielerischer Entscheidungen (70ff).

Allerdings spricht Ruda dem geldbesitzenden Pöbel doch noch eine gewisse Inklusivität bzgl. der Rechtssubjektivität zu:


„Solange er erscheint, erscheint er als Eigentümer“ (91), und

„... sobald er Reichtum besitzt, bleibt er weiterhin in die staatliche Sphäre des Rechts als Person eingebunden“ (92).


Ausführlich zeichnet Ruda Hegels Erörterung des Pöbels am unsittlichen Willen auch der Reichen nach, und eröffnet so einen Blick auf die von Ruda behauptete andere Notwendigkeit der rechtlichen Person und ihrer Sittlichkeit:

Einerseits können damit alle Menschen, soweit sie gerade Reichtum konsumieren, irgendwie auch Pöbel sein, also alle Menschen, soweit sie sich mit ihrem Einkommen in Privatheit bewegen, ihr Privatheit leben. Andererseits weist die von Ruda hervorgehobene Existenz des reichen Pöbels bei Hegel darauf hin, dass Inklusions- wie Exklusionskriterium für das bürgerliche Recht und seine Sittlichkeit nicht der freie Wille sein kann, schon gar nicht als allein selbstbezogener, sondern eher die freiwillige produktive, und nicht nur konsumtive, Teilhabe am gesellschaftlichen Reichtum.


Der Reichtumsproduktion, als Moment der alltäglichen Tatsächlichkeit, gewinnt Ruda allerdings keine argumentative Kraft einer Notwendigkeit ab, etwa in logisch stringenter Darlegung eines zu Hegel alternativen Prinzips der bürgerlichen Gesellschaft. Diese Möglichkeit wird von Ruda nicht einmal in Erwägung gezogen. Vielmehr meint er, in Umkehrung von Hegels logischer Entwicklung, dieses andere Prinzip schon bei Hegel vorzufinden.


Ruda setzt lieber auf die Möglichkeit, oder „Latenz“ der allgemeinen Verpöbelung, die sich – auch – am reichen Pöbel auftut.




6. Materialismus und Un-Wille des Pöbels


Die Armen selbst verfügen im Sinne von Hegel (und Ruda) nicht einmal über sich selbst, im abstrakt rechtlichen Sinne haben sie nicht einen/ihren Körper, sondern sie sind nur Körper, “bloße Körper”(195).

So sind sie objektiv und von Seiten des Rechts selbst entbunden von gesellschaftlichem Recht wie dessen Verpflichtungen. Allerdings bleiben sie als das nichtrechtliche „Böse“ der Macht des Staates unterworfen und erfahren durchaus eine rechtliche Behandlung.


Der Wille des Pöbels selbst ist keiner bezogen auf ein (oder das staatliche) Gemeinwesen. Der Pöbel ist also nicht nur objektiv und von aussen durch seine rechtliche Nichtbestimmtheit, sondern auch in sich und subjektiv entbunden von Rechten und Pflichten, er ist “gesinnungslos”.


Damit unterscheidet Ruda den Willen des Pöbels von Hegels freien Willen, und bezeichnet ihn als „Wollen“:

„ist dem Pöbel vielmehr ein Wollen, denn ein Willen eigentümlich“(217)

„Das Wollen des Pöbels entspricht nicht dem Hegel´schen freien Willen“ (217)


Gemeint ist von Ruda allerdings nur der abstrakt freie Wille, den er nicht vom freien Willen geschieden haben will:


„ein Wollen eines vollends konkreten, bestimmten Unmöglichen... (des Hegel´schen Staates)“ (217)


Das Wollen des Pöbels zeichnet Ruda im Unterschied vom rechtlichen Willen als konkret allein an seiner Bedürftigkeit orientiert:


„Das Wollen des Pöbels richtet sich auf etwas Konkretes – auf sich selbst“ (217)


Die nicht als Gesinnung an Recht und Staat orientierte (von Hegel schon formulierte) „Empörung“ fordert damit nach Ruda nichts als


„ein Un-Recht auf Sicherung der eigenen Subsistenz“ (216).


Damit hat der Pöbel sich befreit von der mit Recht und Sittlichkeit einhergehenden Verpflichtung, er nimmt Maß allein an sich und seinen Bedürfnissen.


Warum diese „Unmöglichkeit“, dieses „Un-Recht“ aber eines ist, das zugleich für alle eingefordert ist, ist am Inhalt der einzelnen Empörung gar nicht fassbar.

Ruda meint sogar, dass eine solche Empörung nicht nur eine ist, die sich gegen die Verpflichtung auf aktuelle gesellschaftlich vorgegebene Inhalte richtet:


„ein Wollen der Abschaffung der Bedingung der Möglichkeit der eigenen Emergenz“ (217)


Auch diese Erweiterung der Empörung auf die dem Pöbel äusseren Bedingungen seiner Möglichkeit ist nicht nachzuvollziehen, wo doch das Wollen des Pöbels seiner Unmittelbarkeit verhaftet sein und bleiben soll.




7. Möglichkeit von Universalität und Gleichheit im Nichts


Bei aller Besonderung seiner realen Existenz ist für Ruda der Pöbel doch als universell anzusehen, wenn auch nur “doppelt latent”:


“...dass jeder Beliebige im Staat (logisch) vor jeder ihm zukommenden Bestimmung nichts als Pöbel, oder genauer: Nichts als Pöbel gewesen sein wird”(114)


Ruda nimmt Hegels leere Bestimmung des Pöbels von Seiten des bürgerlichen Rechts an und auf, um ihr eine positive Substanz zuzuweisen, unter welche noch jeder Mensch – der Möglichkeit nach – zu subsumieren ist:


„Das Universale, das seine Partikularität auszeichnet, ist, dass er als Partikularität absolute Privation, absolute Armut, vollkommene Leere an Bestimmungen,... und damit als dieses Nichts immer schon das Allgemeine, das jeden Beliebigen latent auszeichnet, kurz: das Universale gewesen sein wird.“ (115)


“.. ist die Pöbel-Besonderheit dadurch ausgezeichnet, dass sie an und fuer sich, als’ schweifende[s] Leben’ (...) einer absoluten Leere an Bestimmung jeden Beliebigen bereits immer ausgezeichnet haben wird.”(115)


Gerade diese Unbestimmtheit verleiht dem Pöbel nach Ruda zugleich eine politische Ausrichtung auf Gleichheit:


Der arme Pöbel deklariert damit ein Recht ohne Recht, das nur für ihn und dennoch (latent) für alle gilt”(104).


So behauptet Ruda mit seinem zentralen und vielfach wiederholtem Theorem der “Logik der doppelten Latenz” (114, sowie 113, 217 usw.) eine Wirklichkeit jenseits und v.a. gegen alle Tatsächlichkeit.


Dem kann man schon entgegenhalten, dass nach dieser Logik der „Latenz“ umgekehrt der Pöbel auch die ebenso fiktive Möglichkeit enthält Bürger zu sein. Entscheidender ist, dass mit seiner Hegel entlehnten qualitätslosen Bestimmung des Pöbels als Nicht-Person, also als nur das Andere der Person, Ruda im Pöbel letztlich Hegels ebenso punkthafte Eigenheit der Rechtsperson nur spiegelt. Die Eindimensionalität der Person in der Selbstbezüglichkeit des Willens gewährt die Gleichheit aller Personen; die komplette Leere des Pöbels ermöglicht die Gleichheit aller Menschen. Die Fassung des Menschen durch dieses einfache Nicht-Person-Sein bleibt aber ebenso abstrakt wie die Person, und somit jenseits aller menschlichen Individualität.




8. Der Pöbel als andere Idee


Ruda bescheinigt so dem hegelschen System zurecht einerseits eine vernichtende Unfähigkeit, den Pöbel kategorial überhaupt zu erfassen:


“Der Pöbel ist kein Problem Hegels.”(151).

“Das Problem, das der Pöbel markiert, übersteigt Hegels begriffliche und philosophische Mittel der Kategorisierung.”(102)


Andererseits hält Ruda ausdrücklich am freien Willen im Sinne Hegels fest, und damit an einer logisch notwendigen Entwicklung dieses freien Willens hin zum abstrakt freien Willen, sprich: zum rechtlichen Willen (203-212). Hier will er nicht einen Fehler Hegels wahrnehmen, sondern (mit Zustimmung Žižeks) eine notwendige Irrationalität, die nicht nur die hegelsche Rechtsphilosophie ad absurdum führt:


„der Pöbel eine Grenze, eine Limitierung dieser ´politischen Philosophie´ des Staates bedeutet“ (243)


„Was den Begriff des Pöbels symptomatisch macht, ist, dass er einen notwendig produzierten ´irrationalen ´ Exzess des modernen rationalen Staates beschreibt“ (Slavoj Žižek, im Vorwort, 13)


Die politische Philosophie Hegels, die den Staat und die bürgerliche Gesellschaft legitimiert, meint Ruda mit dem Pöbel zu überschreiten. Da er mit Hegel den besonderen abstrakt freien Willen für einen Ausfluss des Willens überhaupt hält, befürwortet Ruda im Pöbel einen Willen nicht nur jenseits bürgerlichen Rechtlichkeit, sondern auch jenseits der Freiheit des Willens, die auf gedanklichen Urteilen beruht.

Wie Hegel für die Person („Sei Person..“), so formuliert Ruda den Pöbel implizit als Imperativ: Sei Pöbel. Dieser Imperativ erlaubt wegen der kompletten Substanzlosigkeit allerdings nicht die hegelsche Fortsetzung einer gegenseitigen Anerkennung.


Ruda meint mit dem Pöbel nicht nur das Recht, die Sphäre des abstrakt freien Willens, sondern die Geistphilosophie Hegels insgesamt hinter sich gelassen zu haben. Die alternative gesellschaftliche Tat, die Ruda vorschwebt, ist eine, die auf keinen Fall einem Geist entspringt, der eine “Wahrheit“ (auch keine „des Staates”) erkennen will, und dabei sich der Logik verpflichtet weiss: Wille als Eingebung, Vorurteil, Erleuchtung, Einfall, die daraus resultierende gesellschaftliche Tat als dem Denken nicht zugängliches Schicksal …, summarisch: Idee im banalsten Sinne (vgl. sein neues Buch „Abolishing Freedom: A Plea for a Contemporary Use of Fatalism (Provocations)“, 2016)


Diese seine Verabschiedung vom objektiv erklärenden Denken und der Willensbildung daraus baut ausgerechnet auf Hegels Geistphilosophie. Mit der Fortschreibung von Hegels (!) Pöbel entwirft er zur sich objektivierenden Idee der Rechtsperson eine ihr ebenbürtiges, d.h. ein ebenso ideales alternatives Subjekt. Zu dieser Ironie dürfte sich Ruda allerdings bekennen.




9. Von Hegels Pöbel zum Proletariat beim jungen Marx


Ruda meint zum Übergang von Hegel zu Marx, dass „sich der Pöbel … als Ausgangspunkt des Marx´schen Unternehmens verstehen lässt“ (24), also „die Transformation der Philosophie durch Marx vom Pöbel ausgeht.“ (24):


„Der Weg führt ... vom Pöbel zum Proletariat, da man zeigen kann, dass das Proletariat alle Charakteristika des Pöbels enthält.“ (248)


Wie dem Pöbel, so weist Ruda mit dem frühen Marx dem Proletariat mit der ihm angeblich gegebenen „Einsicht in die konstitutive Bestimmungslosigkeit des Menschen“ eine Mission der „Universalität“ zu, „die für jeden Beliebigen da ist“ (253):


“Um...den Eintrag der Logik des (Privat-)Eigentums … in der Wesensbestimmung des Menschen zu durchbrechen und eine wirkliche, uneingeschränkte universale Gleichheit aller Beliebigen zu denken, muss das Wesen des Menschen als bestimmungsloses gedacht werden” (252)

„Es muss zur vollständigen ´Entwesung´ des Menschen kommen.“ (251)

„Deswegen ist das Proletariat auch eine Klasse, die keine Klasse ist und konstitutiv unterschieden von der Arbeiterklasse.“ (250)


Diese ideale Vorstellung vom Proletariat als das die bürgerliche Gesellschaft revolutionierende Subjekt ist sicher für den frühen Marx nicht von der Hand zu weisen.


Welches Movens es sein mag, das es dem Pöbel oder dem Proletariat erlaubt, die doch inhaltlich bestimmte Negation der bürgerliche Verhältnisse anzuzielen, lässt Ruda absichtlich offen. Er orakelt lieber über Jenseitiges dessen:


„Das Proletariat ist das Subjekt dieses Prozesses der universellen Produktion und was es produziert ist die Universalität, die Marx das Gattungswesen Mensch nennt.“ (257)



Marx selbst hat es offensichtlich nicht bei diesem Gegenideal zur bürgerlichen Person im Proletariat belassen. Er wollte Hegels Begriff der bürgerlichen Gesellschaft aus dem Willen wissenschaftlich etwas entgegensetzen, einen anderen Begriff und logischen Ausgangspunkt formulieren: „Heisshunger nach Mehrarbeit“, durchgeführt als Verwertung von Wert, erscheinend in der Welt der Einkommen und Waren. (Dieses Prinzip und seine logisch ableitbaren Konsequenzen seien hier als Essenz der marxschen Leistung zunächst nur benannt. Das dürfte sich zwar gegen die meisten Lesarten von „Das Kapital“ wenden, kann aber gut belegt werden; vgl. Rünzi, Herbert: Der Heisshunger nach Mehrarbeit. Zur Kritik und Korrektur von Marx´ Theorie der bürgerlichen Gesellschaft. Konstanz 1987)

Mit dem Begriff des Kapitals fasst Marx die Reichtumsproduktion spezifischer als sie von Ruda so qualitätslos formuliert ist. Marx beanspruchte damit zumindest im Ansatz die „Wahrheit des Staates“ erkannt, und eine bestimmte Negation der bürgerlichen Verhältnisse eröffnet zu haben.


Ruda, so belesen und zitierfreudig er sich gibt, kann wohl (zu Recht) am späten Marx zu seiner Gegen-Idee nichts entdecken. Den von Marx angestrengten (wenn vielleicht auch nicht ganz gelungenen) Begriff der bürgerlichen Gesellschaft, mit den sie kennzeichnenden Notwendigkeiten, also Unfreiheiten, will Ruda nicht für seine Analyse der bürgerlichen Gesellschaft und eine jedem mögliche Einsicht darüber bedenken.

Er meint sich mit dem Pöbel und dessen Position begnügen zu können, den objektiv allein negativ zur bürgerlichen Gesellschaft und auch subjektiv nur negativ durch ihre eigenen Willensakte bestimmten Menschen. Der von Hegel nur aus Willensmomenten geschaffene Begriff der bürgerlichen Gesellschaft erfährt so mit dem rudaschen Marx keine Kritik, sondern der Mangel des hegelschen Begriffs in seiner Leerstelle lediglich eine Denunziation wie auch Hypostasierung.


Der positive in Marx´ „Das Kapital“ dargelegte Inhalt – was einmal Ausbeutung genannt wurde – und die Menschen, die als arbeitende daran teilhaben, sind im und vom Pöbel vollständig ausgeblendet. Die Armut, die den Reichtum hervorbringt, ist weder bei Hegel noch bei Ruda entscheidender Gegenstand der Betrachtung und erklärenden Einsicht.




10. Fazit: Idealisierung der Nicht-Person


Hegels Rationalität des Geistes hin zu Recht und Sittlichkeit als Ausfluss des Geistes wird von Ruda auf- und angenommen. Die darin von Hegel dargelegte Notwendigkeit wird von Ruda in keiner Weise inhaltlich bestritten noch eine andere Notwendigkeit dagegenentwickelt.Zwar behauptet er gegen Hegel für Armut und Pöbel eine Notwendigkeit aus der Reichtumsproduktion dieser Gesellschaft, aber er will weder deren Eigentümlichkeiten erfassen, noch mit ihnen eine alternative Erklärung darlegen, die die logische Kraft einer Notwendigkeit hat.


Dennoch meint Ruda gerade mit Hegels Pöbel nicht nur eine Distanz, sondern einen Gegensatz zu seiner Rationalität des Geistes gewonnen zu haben. Am Pöbel selbst feiert er die Zufälligkeit und Irrationalität seines Willens. So fasst Ruda das Wollen des Pöbels, das für ihn mit Hegel nichts ist als nicht-Abstrakt-freier-Wille, als auch schon über diesen Abstrakt-freien-Willen hinausgewachsen, als schon von sich aus gegen das Recht gerichtet. Mit dem Pöbel formuliert Ruda so nicht eine Kritik der „Heiligkeit des Staates“ dieser bürgerlichen Gesellschaft, sondern befürwortet eine Ignoranz ihr gegenüber.


Rudas positive Fassung des Poebels kommt damit seiner Idealisierung gleich. Mit der Logik der doppelten Latenz ist ausdrücklich nicht die reelle Universalität des Pöbels, sondern nur eine (doppelt) mögliche Betroffenheit aller Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft vom Dasein als Pöbel erschlossen.

Das betrifft nicht nur die objektive Stellung des Pöbels, sondern auch seine Subjektivität:

Der Willensakt der Empörung, die Form des Aufbegehrens des Pöbels, ist – entgegen der Beurteilung von Ruda – nicht einmal eine Bestreitung der Naturgegebenheit seiner Lage. Der Pöbel mahnt seine Berücksichtigung durch die Gesellschaft an, ohne irgendetwas bestimmtes an dieser Gesellschaft auch nur infrage zu stellen. Berücksichtigung oder Teilhabe leer ist gefordert, eine Forderung so radikal wie unbestimmt, wiegegen nichts und niemanden gerichtet.

Dem Pöbel ist zwar qua seiner existenziellen Bestimmung auferlegt, nicht Teil der bürgerlichen Verhältnisse zu sein. Diese Negation ist aber eine nur über die bürgerliche Gesellschaft, der Pöbel bleibt für sich objektiv wie subjektiv unbestimmt, als Nur-Negativum der bürgerlichen Gesellschaft dieser deshalb verhaftet.

So mag der tatsächliche Pöbel auch zu haben sein für ein Un-Recht auf staatliche Betreuung wie dennoch rechtliche Behandlung im hegelschen Sinne. Die tatsächlichen Bürger mögen auch eher eine Behandlung des Poebels nach Maßgabe Hegels befürworten, von der Sozialhilfe bis zur Polizei. Eine Mutierung vom reellem wie potentiellem Pöbel zur Universalität eines revolutionären Proletariats ist am Pöbel nicht absehbar, ist nur möglich wie beim Nichtpöbel auch. Sollte eine derartige Empörung eines solchen vollständig – allerdings negativ – vom bürgerlichen Willen bestimmten Subjekts tatsächlich zu so etwas wie Revolte finden, mag sie wegen der Bewusstlosigkeit gegenüber den Prinzipien, denen dieser subjektive Pöbel seine Existenz verdankt, auch eher die vorgegebenen Formen perpetuieren und übersteigern oder den Weg ganz zu bürgerlichen Inhalten zurückfinden.




11. eine konstruktive Alternative


Dieser Idealisierung des Pöbels (wie auch Hegels ideellem Rechts-Subjekt) ist nur zu entkommen, indem mit der Emergenz des Pöbels nicht nur negativ ein Mangel der bürgerlichen Gesellschaft und des bürgerlichen Rechts (Hegels) aufgewiesen, und nur der subjektive Platzhalter oder Stellvertreter dieses Mangels identifiziert wird. Es muss schon die inhaltlich bestimmte Freiheit der bürgerlichen Gesellschaft und des bürgerlichen Rechts eine einsehbare Zerrüttung zu erfahren, durch Kenntlichmachung des “wahren Wesen des Staates”, wie es Marx gegen Hegel beanspruchte.

Dazu sind Ansatzpunkte weniger beim hegelianischen jungen Marx und seiner (wie Ruda zeigt) dem hegelschen Pöbel entlehnten Idee vom Proletariat und vom Kommunismus zu finden. Eher ist es mit dem Gehalt von “Das Kapital” des späten Marx zu leisten – zumindest wenn es gegen Hegel und viele Marxisten als wissenschaftliche Bestimmung anderer, nicht-willentlicher (und deshalb mit den hegelschen konkurrierenden!) Prinzipien der bürgerlichen Gesellschaft gelesen wird:

Wenn für die besondere wie sich autonom wähnende Willentlichkeit des Rechts in der abstrakten Person und im abstrakten Haben (Eigentum) ein Grund in der Verwertung des Werts nachgewiesen wird, erst damit können – entgegen Hegels Vorstellung – Recht und Staat nicht mehr als notwendige Konsequenz oder Verwirklichung des freien Willens gelten. Dann sind sie als Beschränkung des freien Willens bestimmt, universell für alle Menschen, die dem Recht unterworfen sind. Ruda bringt das nur als Gegenbehauptung vor, und inhaltlich unbestimmt lediglich am gesellschaftlichen Symptom des Pöbels wie auch am vagen alternativen Prinzip Reichtumsproduktion.


Näher und mit Marx bestimmt sind es die Einkommensquellen der bürgerlichen Ökonomie (wie der späte Marx mit “Das Kapital” sie als Ergebnis der Mehrwertproduktion gefasst hat), die ein abstraktes Verfügen wie beim Eigentum notwendig machen. Das mit den Revenuequellen resultierende Haben und Konsumieren von Reichtum dagegen reicht zu einer Konstitution von rechtlicher Subjektivität nicht hin. Weiter ist der Lohnarbeiter die prototypische und (mit Ausnahme des Pöbels) für alle geltende Gestalt der bürgerlichen Gesellschaft, die von sich als Mensch abstrahieren muss, um als reine Rechtsperson über sich im Produktionsprozess weiter verfügen zu können.

Diese logischen Notwendigkeiten aus vergegenständlichten gesellschaftlichen Sachverhalten und hin zu rechtlichen Subjekten kennzeichnen eine Einsicht, mit der die Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft einschließlich ihrer Armen den Willen fassen könnten, diese bürgerliche Gesellschaft und ihren Rechtsstaat hinter sich zu lassen. Die Chance zu verpöbeln und die Leere der Pöbelexistenz selbst bieten dagegen nur eine ungewisse und richtungslose Erkenntnis.